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  • 2. Text zur Ausstellung H201415M - Ausscharre des z, Berlin 2015
  • 1. Text zur Ausstellung H201415M - Ausscharre des z, Berlin 2015
  • Hilarion Manero... aus einer alten Handschrift.
  • Vorspiel zur Ausstellung 'Was ist ein psychochromatischer Künstler?'
  • Zur Psychochromatik

  • 2. Text zu H201415M – Ausscharre des z

    Odin ist unser Vergil und führt uns diesmal in zwei unterschiedene Zeiten. Seine Sängerin: Pandora; ist diese doch im Namen eines seiner vielen Gesichter – des Schwagers Zeus – entsprungen. Mit ihr, der All- Begabten, endete das erste goldene Zeitalter der Menschen, die Freundschaft mit den Göttern, Einfalt und Langeweile. Zu schön war sie und er zu sehr Mensch als Tier oder Titan, als dass der Epimetheus, nachsagender Bruder des Feuerbringers, ihren Reizen nicht erlegen wäre. Nun denn, Odin führt, in Gestalt eines Kindes blickt er in zwei Räume. Auf drei Inseln und in einen Wald, der aus fünf neun macht und von einer Fontäne erhellt ist. Die Bäume zum Wald an einem Bachlauf sind den Baumgeistern, Kindern des ersten Vatermords der Geschichte, zugeeignet. Die Dryaden, tänzerisch- neckische Spielerinnen, und H201515M bringen in diesem Raum den alchemistischen Leitgedanken Wie oben so auch unten zum Tragen. Doch eigentlich ist es viel zu dunkel um das nächtliche Lager zu stören.

    Ein blauer Vorhang – „Neptune watching“ – verbindet beide Räume und führt uns auf zwei der Bühnen des Book of Death. Das umfangreiche Buch, an dem der Essayist seit drei Jahren arbeitet, besteht aus Kapiteln, die wiederum eine bis drei seiner Dichtungsgraphien, zeigen: Die Römerin Nox lagert immer noch; aber warum wartet sie vor den Pforten des Pluto? Klopft die Nacht etwa am Hades, wie Manero als Titelgeber suggeriert? Nox at the Doors of Plutonium. Vielleicht ist sie dort nicht mehr erwünscht und wurde verbannt oder – es scheint wahrscheinlicher – sie wurde aus unserer Zeit durch ein gleißendes Licht vertrieben. Erwartet Asyl. Die Nacht ist Dämmerung und Morgenröte zugleich strukturell unmöglich daher das was dazwischen liegt.

    Die Bilder beantworten uns diese Fragen nicht, warum sollten sie auch? Die Kunst, weder Megaphon noch reines Medium, hat den Vorzug vom Subjekt besetzt werden zu dürfen. Unkontrollierbar, aber doch unter der Ägide ihrer Schöpferinnen. In unserem Fall H201415M. Dieser verdeutlicht uns möglicherweise, dass Bühnen der Inszenierung von Alltäglichem dienen und das Desillusion nicht unbedingt den Zauber rauben muss, sondern diesen nur wandelt in die Bewunderung der Inszenierungen eben jener Verhältnisse. Denn dies macht unser ehemaliger Künstler und tut dabei nicht schlecht daran, ein paar eigene Dämonen zu visualisieren.

    Manero lässt uns mit dieser Ausstellung, die man als ein zusammenhängendes Stück verstehen kann, einen Blick in seinen eigenen Kosmos werfen und lädt ein, sich auf die Suche zu machen. Die Instrumente, die wir für eine solche haben, sind jedoch unzureichend. Unzureichend, aber sorglos denn glücklich, wenn sie Reichtum erzeugen können.
    Und so lassen sich auch die Arbeiten des freiwillig en Verneiners aus verschiedenen Richtungen lesen. Formal, inhaltlich, assoziativ. Kunsthistorisch sehen wir opernhafte Inszenierungen, die gleichzeitig mit einem stark medienreflexiven Gestus die eigenen Produktionsbedingungen und ihren Verlauf offen legen. Ein modernistischer Zug. Mit seinen biomorphen Formen mag er Anklang an den Surrealismus nehmen. Doch fordert das Symbolistische seiner mythologischen Inszenierungen uns, sich einer klassischen Bildung zuzuwenden. Nicht als Selbstzweck, sondern im Bewusstsein, wie er sagt, dass die Geschichten, die wir erzählen, Repräsentationen sowohl eines Vorher als auch eines Nachher unserer selbst sind. Dass wir dabei von seiner pathetischen Eloquenz, betörend und sinnlich, getragen werden, ist Wegzehrung.

    Die Lage ist jene, dass Odin wieder ruft und Manero feststellt, dass dieser Odin nicht nur nordischer Gottvater, sondern auch das Kind der Zukunft sei: Von ihm kommen die Gaben des Geistes. Alle Fähigkeiten des Menschen, die mehr der Klugheit oder der List als den Kräften des Körpers zu verdanken sind, entspringen seiner Gunst und seinem Vorbild. Der mächtige Blick aus der Vergangenheit ist uns aus dieser Perspektive dann ein Ausgeliefertsein aus der Zukunft und man kann nachvollziehen, dass die kleine Ausstellung kugelige Gegensätze aneinanderfügen will. Mysterienspiel eines Essentialisten gleich Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene.

    Julian Malte Schindele

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    H201415M - Ausscharre des z

    Mit Ausscharre des z nimmt Hilarion Manero einen weiteren Namen auf. H201415M. Ebenso entschied er sich, das Emblem des Künstlers abzulegen und sich fortan als 'Essayist', als einen Freund der offenen Form und des Versuchs zu bezeichnen. Seine Tätigkeit ist nun die Dichtungsgraphie.

    Dies erinnert uns an die erste von Bublitz begleitete Ausstellung "Was ist ein psychochromatischer Künstler?" im Sprechsaal, in der Marienstraße in Berlin Mitte. War dies die Rückschau auf Maneros malerisches Werk der letzten Jahre aus der Isolation, sehen wir in Ausscharre des z die Einbindung einiger dieser Gemälde in eine größere Arbeit sowie zwei oder drei Inseln des Book of Death. Entstanden in den drei Jahren nach der vergangenen Ausstellung.

    Die Inseln sind die Refugien der Götter, wie er sagt: "They go onto the islands to sojourn there." Ansonsten wären diese überall und ich möchte sie mir als symbolisch zentrierte psychische Energien vorstellen, die uns begleiten, die uns suchen und Potentiale verkörpern. Für H201415M handelt es sich um Theaterstücke. Rollen, die Personifikationen unseres eigenen Benehmens als Menschen darstellen. Die Kugeln Götter, die wie Augen nicht altern.

    Die Okeanide Klymene ist noch vor Kronos den Launen des Uranus unterworfen und Nox lagert in der zweiten Dichtungsgraphie vor den Türen Plutoniums. Die beiden Protogenoi sind eingebettet in Schwarz in einer Landschaft. Umgeben von Felsen, die Beobachter sind.

    Vertrautes wird in der Präsentation unvertraut und verlässt dadurch den möglichen Blick. Kann vielleicht hierdurch noch berühren. Es ginge jedoch (Hilarion Manero insistierend) keineswegs um das Unheimliche.

    Im Gegensatz, um das Magische. Und das Mögliche.

    Daher lassen sich die zu sehenden Arbeiten als moralische Stücke beschreiben. Doch reicht dies glücklicherweise zu kurz und sei frei. Denn die erwähnten Gestalten würden auf strahlende Objekte treffen: "We have to decide ourselves." Macht, die in dieser Ausstellung nur mittelbar thematisiert wird, ist für den Essayisten das zentrale Bezugssystem. Wie alles Macht ausübt.

    Bewusst, unbewusst, ohne Bewusstsein. Für H201415M die wichtigste Bezugsfigur im Moment, Charlie Chaplin.
    Der zweite Komplex bildet ein erotisches Ensemble: Eine Gruppe Dryaden hat sich um einen Bachlauf zusammengefunden und repräsentiert das weibliche Prinzip der Ausstellung.

    Ausscharre des z sind die Reflexionen eines mythisch denkenden Zeitgenossen in zweieinhalb Akten. Thema, die geschichtliche Eingebundenheit unserer Zeit und wie wir diese besetzten.

    Julian Malte Schindele

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    Hilarion Manero... aus einer alten Handschrift.

    (...)Angekommen ist er in Argentinien. Weich und weiß lag er in unserer Wiege. Lider waren ihm an die Brauen geklebt, so dass ihm alles Sehen möglich war. Zusammengekommen für seine Geburt waren Heilsverkünder und Propheten. Aus Harlem, aus Peking, Paris und aus dem roten Wedding waren sie gekommen, um ihn zu preisen. Sie versprachen ihn zu geleiten, gegen seine eigenen Erwartungen. Geleitet haben sie ihn auf einem uns hier nicht zugänglichen Wege. Für uns taucht Hilarion Manero erst wieder sichtbar in Erscheinung im Jahre der Unvernunft 1977.

    David Bowie, James Brown und zwei Männer namens Rembrandt und Jan van Eyck begleiten ihn auf allen Wegen. So bereitet er uns diese schwarzen Matrosen zu lieben. Wenn Hilarion Fan ist, stürmt er sein eigenes Leben. Oben und Unten. Fahnen wehen keine. Nur Säfte fließen seitdem. Angekommen in New York City liegt er als Performance. Schauderhaft liegt ihm das Dichten. Angst kennt er nur erzeugt in Anderen. Schaudern haben andere übernommen. Sein Lieben schaudert sich in keiner Sekunde. Nur wenn die Zeiteinheiten kleiner werden, wenn die Zeit sich weiter zerrt und er sie sich selbst dehnt, dann, nur dann geht ein in ihn, was zuviel Platz will. Groß und weiß liegt er dem Mond gegenüber. Er muss warten. Der Mond. Mutig und schüchtern vor all der Möglichkeit schreitet er sehend in den kahlen Hügel der voller Vergangenheit ist, um daran zu erinnern, dass Mondlicht das Beste aus ihm macht. Die Schminke erstrahlt.

    Hilarion steht 1977 an der Ecke Bleeker/MacDougal mit einer braunen Wildlederjacke auf der Kreuzung und trifft Fred Neil im Regen. Einen Rocker der Delphine liebt. An der Tiefe ihrer gekreuzten Blicke bemerken beide die Stärke eines unzureichenden Lebens. Unzureichend enttäuscht? Weder Fred noch Hilarion sehen die Bedingung dieser Enttäuschung. Ein Rausch ist als Spiel verstanden kreativ, als Quelle für anschlussfähige Erfahrung aber eher The road to hell. Nach diesem Treffen waren beide immer mal wieder in dieser Vorhölle. Sie beide haben den Rausch auch mal ohne Spiel verstanden. Naja, Schande ist anders. Denn gelernt haben sie beide das Gegenteil von Zynismus. Ob der Anlass dafür das Treffen an der Bleeker/MacDougal war, wird sich schwer herausfinden lassen. Doch das Gegenteil von Zynismus ist trotzdem gegossenin ihre Formen. Für Fred und Hilarion ist seit dieser Begegnung eben nicht alles gleich. Dem Zyniker ist alles gleich. Für Hilarion zumindest ist nicht alles gleich interessant. Noch ist alles möglich, anwesend oder wesentlich. Vielmehr ist Malen die Gabe zum Abschaben des oberflächlich Wesentlichen. Die Oberfläche ist nicht weg. Denn Farbe exempli gratia ist ja auf der Leinwand. Die Leinwand ist nur dichter geworden. Das Malen ist Leinwand und Farbe und Öl und...Hilarion. Abgeschabt ist die Gegenfarbe, die Fabrik und die Möglichkeit. Die Welt braucht Welten um dies zu verstehen. Hilarion verstand und zog weiter.

    Gelangweilt von Schnurrbärten und Hoden in engen Jeans setzt er sich auf ein Floß und navigiert sich durch die Ströme, einmal um die Welt. Er hält einen Chinesen auf der Oberseite der Welt an ihm zu erklären, was dieses Hoch- Hinaus-Wollen und dieses Weit-Reichen-Wollen denn bedeutet. Dies machten die Menschen wohl ständig und Hilarion verstand nicht, wieso sie, wenn...„sie sich cool nennen, wieso sie dann doch so schmerzverzerrt und bedeutend ernst sind.“ Der kleine Mann erklärt ihm, dass die Moden Bauwerke seien, die den Menschen ein Ersatz seien. „Wenn man die Lippen einer Frau nicht zu malen versteht, so baut man einen Wolkenkratzer. Damit man an ihnen hochschauen kann und in der Wolke ein Gesicht erkennt.“ Diese Erklärung machte Hilarion sehr unglücklich und so führte er seine Reise auf dem Floß weiter.

    Hilarion verbrachte die kommenden Jahre in der Lehre. Auf einsamen Inseln und unter Stöckern. Auf dem Rücken einer Libelle und zwischen den Lücken eines mit Leder bezogenen Stuhls. Er führte Gestalten und ein Heer aus Harlekinen hinter sich her. Eine der weiblichen Harlekine hatte einen Klumpfuß und erzählte Hilarion, dass sie einmal gemalt wurde von einem Spanier. Ein Meister seines Fachs, dieser José, so sagte sie. Sie trug auf dem Gemälde einen roten Jumper(sansculottes) und hatte ihren Gehstock frech über die linke Schulter geworfen. Dabei, so beschrieb sie, musste sie laut lachen, da es ja für den Betrachter ausgesehen haben mag, als würde sie sich über ihre Behinderung lustig machen. Nur tat sie das gar nicht, gab sie zu verstehen. Sie freute sich wirklich, denn ohne den Klumpfuß wäre sie nie Gegenstand der Kunst geworden.

    Die Kunst war Hilarion Zeit seines Lebens rechtlich egal gewesen. Kunst, so sagte er, geschieht wenn wir nicht Schweigen. Also war er immer Künstler gewesen, denn geschwiegen hat Hilarion nie.

    Als Hilarion vierzig Jahre alt wurde und gerade über den einen Flohmarkt an der Seine schlenderte, traf er in diesem Snob-Has-Been-Paris einen Prager Straßenkehrer, der behauptete eigentlich Schriftsteller zu sein. Hilarion verstand, dass Wünschen zwar nicht Schreiben heißt er aber diesem Mann gern zuhören möchte. Doch als Hilarion ihn fragte, was denn das Material oder wenigstens der Gegenstand seines Schreibens sei, antwortete der Kehrer nicht. Vielmehr nahm er Hilarions Arm und sprang auf die Brüstung der Promenade und begann zu tanzen. Einen leichten Fox Trott, dann Jive, danach machte er einen Handstand, für circa dreißig Sekunden und sprang dann mit einem großen Satz auf den Kopf von Hilarion. Dabei sang er in der Melodie der Marseillaise: „Von den Händen auf den Kopf, ich habe mich gedreht, wie ihr seht, von den Händen auf die Füße, aber auf dem Kopf, manchmal sind die Füße auf denen man steht, auch nur der Kopf eines anderen.“ Dann pfiff er noch eine halbe Stunde und sprang ab!

    Nach vielen Jahren dieser Art Wanderschaft waren für Hilarion die meisten Plateaus, die hinter ihm lagen, sinnreich geworden. Er begann zu lächeln. Er hustete zwar noch ein bisschen, doch war er in passablem Zustand, wie er selber sagte. Es begab sich, dass er während dieser Feststellung gerade die Deutsch-Polnische Grenze hinter sich ließ und im Spreewald bei einem netten Fährmann in den Kahn steigen durfte. Dieser wollte nach Spandau, ein kleines häßliches Industriedorf bei Berlin, staken. Hilarion nahm die Gelegenheit bei den Eiern und freute sich auf die vor ihm liegende Strecke. Denn gehört hatte er, dass die Deutschen, sobald sie die Arbeit in sitzender Fahrt verbrächten, höchst gesellige Tiere wären. Eben so stellte es sich ein.

    Der Kahnfährmann war der Soundtrack seiner Fahrt. Jener erzählt ihm, was in dieser Gegend geschehen ist und was Sonderbares geschehen wird. Er erzählte ihm, dass er früher für den Tourismus tätig war, doch dann habe man seine Liebe zum Schnaps und den Kneipen beanstandet und die Tourismusbehörde entließ ihn. Jetzt führe er Terminfracht in aller Herren Länder. Seine Berichte hatten immer einen klagenden Ton. „Die Kindergärten sind alle zu, also kriegen die Leute keine Kinder mehr. Die Menschen haben das Handwerk verlernt, also wissen sie nicht mehr weshalb es sich zu arbeiten lohnt. Staatlich entlohnt,vergehen sie an der Fiktion und da die real geworden ist vergehen sie an organisierter Langeweile.“

    Angekommen am Cottbuser Tor begann der Mann mit dem Rudel sich zu wiederholen. Er erzählte wieder von der Terminfracht und den Herren Ländern und dass das der Grund wäre, weshalb er nur noch nach Deutschland liefere. In diesem Moment, an der Kottbuser Brücke, griff Hilarion seinen Tornister, den er auf der östlichen Falklandinsel von einem argentinischen Marineoffizier geschenkt bekommen hatte, und sprang ins heilig nüchterne Wasser des Teltowkanals. Hilarion schwamm um sein Leben, er drehte sich so flink durchs Wasser, dass demselben keine Möglichkeit gegeben war in den Tornister einzudringen. Er ist ein guter Schwimmer. In Santa Barbara hatte er eine Eilausbildung in Delphinsausen gemacht. Daher gelang ihm die Flucht vor dem brandenburgischen Barbaren in Windeseile. Sieben Seemeilen später und einige Kilo leichter erreichte Hilarion den Stadtteil, der der englischen Hochzeit ihren Namen gibt, den Wedding.
    (...)

    Lars Dreiucker, Berlin 2012

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    Vorspiel zur Ausstellung 'Was ist ein psychochromatischer Künstler'?

    "Nach den Bildern und auch nach der Biographie
    können wir in Hilarion Manero keinen
    authentischen naiven Künstler erkennen."

    Erich-Bödeker-Gesellschaft für Naive Kunst e.V.

    Der hiermit vorliegende Ausstellungskatalog ist eine Sammlung des malerischen Werks von Hilarion Manero. Die Ausstellung Hilarion Manero. Was ist ein psychochromatischer Künstler? widmet sich als Erste in großem Umfang dem zerklüfteten Schaffen des Künstlers, für dessen Einordnung und Liebe Sie verantwortlich sind.

    Mit der Zugabe größter Schwierigkeiten und einem gewissen Unwillen, Maneros Werk zu rubrizieren, möchten wir diesen Katalog beginnen. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass Hilarion Manero kein 'authentischer naiver Künstler' ist. Die gibt es nämlich gar nicht. Trotzdem scheint dieser Begriff, so wie er von Wilhelm Uhde Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhundert eingeführt wurde, hilfreich. Auch Manero ist Autodidakt und wenn Uhde die Gruppe an naiven MalerInnen um Henri Rousseau, Camille Bombois und André Bauchant 'als Maler des Heiligen Herzens' markt, so will man sagen: Ja, ein solches Herz möchte ich auch Hilarion zugestehen. Die Unmittelbarkeit des Zugangs und die Ernsthaftigkeit, mit der der Künstler uralte und universelle Geschichten, die großen Allegorien und Mythen der Christenheit, des griechischen Altertums und der nordischen Götter aufgreift, zeugen von einem tiefen Glauben an die Welt. Diesen hat der Zyniker verloren, der Andere, der Naive, kann sich selber ernst nehmen und sie - seine Welt - mit Geschichten befruchten. In Maneros Kunst, in den subjektiven Mythologien, die sich in seinem Kopf wie von selbst mischen und als Bilder herausschälen, ist dieser Wille offensichtlich. Hier sind sie lebendig und erheben den Anspruch auf Aktualität.

    "Der wache Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus annimmt, in der That dem Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers. Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst plötzlich gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann, in der Begleitung des Pisistratus, durch die Märkte Athens fährt - und das glaubte der ehrliche Athener -, so ist in jedem Augenblicke, wie im Traume, Alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zu täuschen."

    (Friedrich Nietzsche – Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873)

    Dank geht an alle und jeden, die an diesem ungewöhnlichen Katalog und der Ausstellung 'Was ist ein psychochromatischer Künstler?' mitwirkten. Vor allem jedoch gilt unser Dank Ronald Thoden, der durch Großzügigkeit Ausstellung und Publikation ermöglicht hat.

    Lars Dreiucker & Julian Malte Schindele, Berlin 2012

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    Psychochromatik (von altgrch. ψυχή, „Hauch“, „Seele“, „Gemüt“ und grch. χρώμα, „Farbe“): ästhetische Theorie der psychologisch-seelischen Wirkung der Farben sowie Praxis der Hervorbringung von inneren Empfindungen durch Farbe, insbes. in der sog. „psychochromatischen Malerei“. Als Erfinder der psychochromat. M. gilt der in Argentinien geborene Maler H. Manero (*1957), der intensive Lokalfarben mit abgestuften Tonwerten und chiaroscuro (Helldunkel) zu spannungsreichen Farbklängen verbindet.

    Während die Psychologie die komplexen psychologisch-seelischen Wirkungen und Gefühlswerte der Farben experimentell zu bestimmen versucht, die von individuellen, kulturellen (Farbsymbolik) und kontextuellen Faktoren abhängig und bislang nur unzureichend erforscht sind, fragt die Ästhetik vor allem nach dem Ausdruckscharakter, den Kombinationen und Harmonien der Farbe. Die P. als Grenzbereich der traditionellen Ästhetik betrachtet die seelisch-psychologischen Wirkungen der Farben in der bildenden Kunst. Im Vordergrund steht die individuelle, z.T. spirituell gefärbte Aufnahme des Kolorits in die Gefühlswelt der Betrachter. Von zentraler Bedeutung ist die Analogie von Farben und Tönen, wie sie u.a. in den Farbenlehren von Aristoteles (*384 v. Chr., †322 v. Chr.), G. Zarlino (*1570, †1590) und I. Newton (*1643, †1727) auftaucht. Im 20. Jh. betont vor allem W. Kandinsky (*1866, †1944) die Kraft der Farbe, im Betrachter eine „seelische Vibration“ hervorzurufen.

    Die psychochromat. M. in der Nachfolge H. Maneros versucht, die traditionelle Dichotomie von Form und Farbe zu überwinden, die bei C. Cennini (um 1370, † um 1440) als Unterscheidung von disegno und colore eingeführt und von G. Vasari (*1511, †1574) aufgenommen worden war. Bei Manero et al. kann die Farbe nur in Wechselwirkung mit Form und Sujet seine Wirkung entfalten. Ungetrübte Farben werden daher den Sujets entsprechend oftmals mit sanftem sfumato verbunden.

    L.B. Alberti (*1404, †1472) et al. hatten, antiken Überlegungen folgend, die Grundfarben (veri colori) mit den vier Elementen assoziiert. Die psychochromat. Mal. greift in spielerisch-naiver Manier die kosmologischen Züge traditioneller Farbenlehren auf. In Anlehnung an Konzeptionen J.W. v. Goethes (*1749, †1832) gehen wichtige Vertreter der psychochromat. Theorie von einem immerwährenden Kampf zwischen Helligkeit und Dunkel aus, dem die einzelnen Farben ihre spezifischen Eigenschaften verdanken. In der psychochromat. M. findet der Widerstreit von Hell und Dunkel als Gegensatz von Klarheit und Unklarheit Ausdruck.

    L.M.T.

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